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Die Liedertafel Eintracht und ihre Entstehungsgeschichte

ostern5„Steht auf, steht auf, Christen steht auf und singt dem Herrn Alleluja“ – Wenn in der Osternacht nach dem Auferstehungsgottesdienst in der Klosterkirche der Osterweckruf in den Wiedenbrücker Straßen und Gassen erschallt, dann liegt darin für die Sänger der Liedertafel „Eintracht“ nicht nur ein Gutteil Traditionspflege, sondern darüber hinaus auch ein Besinnen auf die Gründung des Vereins im Jahr 1832.

Was heute auf viele gerade aus der jüngeren Generation im Umfeld von CD und MP3-Player wenig „zeitgemäß“ und eher antiquiert wirken mag, das war in seinen Anfangstagen oftmals Ausdruck bürgerlichen Oppositionsgeistes und durchaus Träger liberaler oder im Umfeld des Jahres 1848 sogar „revolutionärer“ Ideen. Der organisierte Männergesang darf im historischen Kontext mit der Situation in Deutschland zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung 1871 als eine fortschrittliche Bewegung des 19. Jahrhunderts, in der insbesondere nationale und liberale bürgerliche Ideen eine Heimat fanden, gesehen werden. Somit zählt er zu den wichtigen politischen und kulturellen Phänomenen dieser Zeit.

Eine erste Gründungswelle von Männergesangvereinen in Deutschland verzeichnet der Paderborner Historiker Professor Dr. Dietmar Klenke, der sich in seinen Forschungsarbeiten intensiv mit der Rolle der Männergesangvereine im Zusammenhang mit dem deutschen Nationalbewusstsein befasst hat, in den 1820er Jahren. Vorangegangen war der Wiener Kongress in den Jahren 1814/15. Dort hatten sich die Hoffnungen auf einen deutschen Nationalstaat nicht erfüllt und stattdessen wurde nur die lose Form des Deutschen Bundes Realität. Dennoch blieb der Wunsch nach einer geeinten deutschen Nation lebendig. Insbesondere das Bürgertum sah sich als Vorkämpfer dieser deutschen Nationalidee und suchte in der Folgezeit nach Möglichkeiten, sie zu pflegen und lebendig zu halten.

Die Gründung der Wiedenbrücker Eintracht fällt dann in eine Zeit, in der die Sängerbewegung sich auf breiter Front entwickelte: Nach 1832 erlebte das organisierte Gesangswesen einen regelrechten Boom. Ein auslösendes Element war in diesem Zusammenhang das Hambacher Fest vom 27. bis 30. Mai 1832 und seine Folgen. Die Forderung nach Volkssouveränität und deutscher Einheit und die damit verbundenen demokratischen Ideen führten in der Folgezeit zu verschärften Repressionsmaßnahmen innerhalb des Deutschen Bundes gegen Demokraten und Liberale. So wurden Versammlungs- und Pressefreiheit weiter eingeschränkt.

Nach der Enttäuschung durch den Wiener Kongress erlitten die nationalen und liberalen Ideen des Bürgertums damit einen zweiten herben Rückschlag. Auf halbem Wege zu einem erzwungenen Rückzug ins Private wurden Vereine – und in diesem Zusammenhang insbesondere die Männergesangvereine – zu einem Refugium. Und das in mehrfacher Hinsicht: Der zunehmende Hang in bürgerlichen Kreisen, sich zu organisieren war zu einen sicherlich von dem deutlichen Wunsch geprägt, die eigenen Ideale und Ideen mit Gleichgesinnten zu pflegen. Zum anderen stellten Vereine mit ihren zum Teil demokratischen Strukturen und selbst verfassten Statuten das „im Kleinen“ dar, was den bürgerlich-liberalen Kreisen „im Großen“ immer noch versagt blieb. Der politische Betätigungsdrang des Bürgertums fand also gerade in den Jahren politischer Repression nach dem Hambacher Fest in den Vereinsgründungen ein Ventil.

alt1Als die Wiedenbrücker Eintracht im Jahr 1832 diesen Schritt vollzog, war der Chorgesang für die damals fast 900 Jahre alte Emsstadt kein neues kulturelles Phänomen: Bereits um das Jahr 1820 hatte eine Soldatenabteilung in ihrer Freizeit den mehrstimmigen Gesang gepflegt. Angeregt dadurch bildete sich dann 1822 in Wiedenbrück ein Verein zur planmäßigen Pflege weltlichen und geistlichen Liedgutes. Dieser Kreis von Sängerinnen und Sängern bildete somit die „Vorstufe“ der Eintracht.
Mag die zeitliche Übereinstimmung mit dem Hambacher Fest auch Zufall gewesen sein, so darf man die Bedeutung national-liberaler Ideen für die bürgerlichen Kreise auch in Wiedenbrück nicht unterbewerten. Geradezu programmatisch ist der Vereinsname, den die Wiedenbrücker Sänger sich gaben: „Eintracht“ meint in diesem Zusammenhang viel mehr als nur musikalische Harmonie. Dabei dürfte der Wunsch nach Geborgenheit und Gemeinschaftlichkeit in Abgrenzung zu sich entwickelnden Konkurrenzverhältnissen innerhalb der Gesellschaft ebenso Pate gestanden haben wie die weit darüber hinaus gehende Hoffnung auf nationale Eintracht und Einheit. Der Wunsch nach Gemeinschaft kam nicht zuletzt in der Pflege der Geselligkeit zum Ausdruck. Auch sie dürfte bei den Wiedenbrücker Sängern nicht zu kurz gekommen sein. Dies legt schon die Bezeichnung „Liedertafel“ nahe, die sich die „Eintrachtler“ gaben: Letztlich bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger, dass man zugleich „tafelte“ und sang.

Dass die Eintracht ihren Ursprung im Umfeld der kirchlichen Gesangskultur hatte, war absolut nicht ungewöhnlich – eher im Gegenteil: Die Bedeutung, die das kirchliche Leben und die damit verbundene Musik für die Sängerbewegung des 19. Jahrhunderts hatte, ist unbestritten. Während viele andere Männergesangsvereine ihre kirchlichen Wurzeln jedoch mehr oder weniger schnell vergaßen oder hinter sich ließen – unter anderem, wie der Paderborner Historiker Klenke erklärt, aus einem „nationalreligiösen Anspruch“ heraus, „der die Nation zur höchsten innerweltlichen Heilsgemeinschaft und den Männergesang zu einem kirchenunabhängigen religiösen Ritus erklärte“ – war dies bei der Wiedenbrücker Eintracht nicht der Fall.
Im Gegenteil: Nachdem die Eintracht ab ihrer Gründung den im Jahr 1830 von Stadtmusiker August Holle verfassten „Osterweckruf“ den Bürgern zu Gehör brachte, weiteten die Sänger ihre Aktivitäten im kirchlichen Umfeld in den Folgejahren noch aus und übernahmen bis zur Gründung eines Kirchenchores im Jahr 1896 zahlreiche musikalische Aufgaben an hohen kirchlichen Festtagen. So auf die Bitte der Wiedenbrücker Franziskaner hin die Ausführung der Leidensgesänge bei der Karfreitagsprozession. Auch wenn diese Gesänge heute gemeinsam von den Wiedenbrücker Chören dargebracht werden, sieht sich die Eintracht immer noch als „Hüter der Noten“ und Bewahrer dieser Tradition.

alt2Doch zurück zu den Anfangsjahren der „Eintracht“: In den Tagen der Märzrevolution 1848 gehörte Wiedenbrück offensichtlich zu den Hochburgen der demokratischen Bewegung, wie der Rietberger Stadt-Archivar Manfred Beine in seinem Beitrag für das Heimatjahrbuch des Kreises Gütersloh aus dem Jahr 1999 „Der Kreis Gütersloh im Lichte der Revolution von 1848“ ausführt. Überlegungen, ob sich eine Brücke von den Ideen solcher demokratischer Vordenker wie Dr. Otto Lüning zu den von der Eintracht gepflegten Idealen schlagen ließe, würden sich allerdings im Reich der Spekulation bewegen. Auf ein kleines Detail am Rande sei in diesem Zusammenhang verwiesen: Die Eintracht und die konservativen Rechten hatten dasselbe Vereinslokal: Beide Gruppen trafen sich in der Gaststätte des Wirtes Johann Bernhard Daake an der Lichtestraße, der heutigen Gaststätte „Paradies“.

Welche direkten politischen Aktivitäten andere Sängervereine gerade um das Revolutionsjahr 1848 herum entwickelten, mag ein Beispiel aus dem nahen Paderborn im Zusammenhang mit dem deutsch-dänischen Krieg verdeutlichen: Als Reaktion auf die dänische Seeblockade riefen westfälische Gesangsvereine zu einem „Flottenkonzert“ auf: „Wie werden wir den Feind, der mit einem einzigen Kriegsschiffe unsern Handel und Wandel hemmen kann, am besten niederwerfen? Mit Hilfe einer deutschen Kriegsflotte!“. So veranstaltete die Paderborner Liedertafel – ein ebenfalls zu einem Gutteil katholisch geprägter Gesangverein – im Sommer des Jahres, am 27. August 1848, ein entsprechendes Benefizkonzert. Der Reinerlös sollte durch den Paderborner Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung dem Fonds zum Aufbau einer deutschen Kriegsflotte übergeben werden. Auch wenn viele Aktive der Eintracht sich durch die dänische Blockade ebenso in ihrem nationalen Ehrgefühl gekränkt gesehen haben dürften wie ihre Paderborner Sangesbrüder, sind ähnliche Aktivitäten aus dem Umfeld der Wiedenbrücker Sänger nicht überliefert.
Verbürgt sind dagegen andere – für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vereins-„typische“ – Aktivitäten: 1856 fand in Wiedenbrück das Westfälische Sängerbundesfest statt. Diese Treffen erfreuten sich unter den Sangesbrüdern in ganz Deutschland großer Beliebtheit.

alt3Die beeindruckenden Sängerfeste in Würzburg 1845 und in Köln 1846 mit jeweils rund 1600 bzw. 2200 Sängern hatten sich in zweifacher Hinsicht als durchaus politische Veranstaltungen mit nationalem Charakter erwiesen: In ihrer Wendung gegen Feinde von außen und die Adelsherrschaft im Inneren. Auf dem Würzburger Fest hatten die Organisatoren die „Gäste aus dem fernen Norden, vom Rhein und von der Donau“ nicht als „Fremdlinge, sondern als Brüder“ empfangen. Die „Feinde“, so hieß es weiter, würden sich „verrechnen“, wenn sie auf die „Uneinigkeit“ unter den Deutschen abzielten.
In Köln ein Jahr später wurde die Äußerung laut, dass es sich beim Männergesang nicht um die Kunst der „bevorrechtigten Stände“ handele, sondern um „Allgemeingut des Volkes“. Kleiner Hinweis am Rande: Das vom Kölner Publikum frenetisch gefeierte Chorwerk aus der Feder Felix Mendelssohn Bartholdys „Der Jäger Abschied“, eine Hymne an den deutschen Wald, gehört noch heute zum Repertoire der Eintracht.

So wie das gesamte Vereinswesen nach dem Revolutionsjahr 1848 von der Obrigkeit argwöhnisch beobachtet wurde – galten viele Vereine doch als Hort „staatsfeindlicher“ demokratischer Ideen – waren auch diese Sängerfeste in den Augen der preußischen Verwaltung „suspekte“ Veranstaltungen. Weniger Argwohn erweckten allerdings diejenigen Treffen und Feste, die im kirchlichen Umfeld stattfanden bzw. kirchlichen Charakter hatten. Professor Klenke führt dies auf die besondere Staatsnähe der Kirchen – insbesondere der evangelischen Landeskirchen – zurück. So wurde laut dem Paderborner Historiker vom Preußischen Kultusministerium den nachgeordneten Behörden empfohlen, Lehrer für Gesangsfeste nur noch dann zu beurlauben, wenn diese „kirchlichen und ernsten Charakter“ hätten.

Im Kontext mit dem kirchlichen Engagement insbesondere der Eintracht dürften das Treffen 1856 in den Augen der Obrigkeit folglich wohl eher als „harmlos“ gegolten haben. Unabhängig davon hatten diese Zusammenkünfte durchaus Volksfestcharakter und stießen dementsprechend in der Bevölkerung auf große Resonanz.

alt4Dass die „Eintrachtler“ sich bei diesen Festen in musikalischer Hinsicht nicht zu verstecken brauchten, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls überliefert. In der Festschrift zum 150-jährigen Bestehen des Vereins heißt es wörtlich: „Liedertafel Eintracht nahm an allen größeren Sängerfesten, die in der Umgebung veranstaltet wurden, stets mit bestem Erfolge teil.“
Im Februar 1879 gründeten die Sänger der Eintracht gemeinsam mit den Männergesangvereinen von Warendorf, Beckum, Oelde, Ahlen, Gütersloh und Rheda den Sängerbund „Westfalia“. Im Juli desselben Jahres fand bereits in Oelde das erste „Westfalia“-Sängerfest statt. Fünf Jahre später wurde in Wiedenbrück das letzte Fest dieses Bundes veranstaltet. Auch im Kontext mit diesem Sängerfest verweist die Eintracht-Chronik nicht ohne Stolz auf die musikalische Qualität der Darbietungen: So heißt es, dass der Dirigent der Eintracht, Ernst Raspe, bei dieser Veranstaltung auch als Solist „mit große Erfolg“ aufgetreten sei.
Regionale Sängerbünde hatten sich zunehmend in den 1860er Jahren in ganz Deutschland gegründet. Einer der ersten war der „Fränkische Sängerbund“ von 1862, der gleichzeitig als einer der größten etwa 4500 Mitglieder aus 147 Vereinen zählte. Im gleichen Jahr fand in Coburg die Gründungsversammlung des „Deutschen Sängerbundes“ (DSB) statt. 41 regionale Sängerbünde mit rund 45000 Mitgliedern fanden sich dort zusammen. Dabei waren gerade die regionalen Bünde Ausdruck des Wunsches, sich über den eigenen Verein hinaus mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Klenke betonte Tatsache, dass der DSB im katholischen Westen Deutschlands lange Zeit kaum Fuß fassen konnte. Der Paderborner Historiker erklärt dies mit der dort vorherrschenden Institution des „Gesangswettstreits“, die, so Klenke, „ihr eigenes vereinsübergreifendes Kontaktnetz hatte und sehr viele Vereine in ihren Bann zog“. Gesangswettstreite hätten die „vaterländischen“ Sängerfeste, wie sie der DSB und seine Regionalbünde organisierten, nicht hochkommen lassen.

Die Tatsache, dass sich viele gerade westfälische Gesangvereine dem DSB fernhielten, änderte sich erst im Jahr 1908, als dort ein regelrechter Schub an Eintritten aus dem westfälischen Raum zu verzeichnen war. Die „vaterländische“ Stimmung im Kaiserreich hatte längst auch die katholisch geprägten Gesangvereine erfasst. Gerade diese waren laut Klenke in der Zeit des Kulturkampfes von 1870 bis 1887 zwischen Preußischem Staat und katholischer Kirche hin- und hergerissen gewesen zwischen „kirchentreuer und nationalliberaler Gesinnung“. Mit dem Abflauen bzw. dem Ende der Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat wurden die katholischen Sänger aus diesem Dilemma befreit.

So ist es kein Wunder, dass der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägte Nationalismus auch vor der Wiedenbrücker Eintracht nicht halt machte: „Deutsches Schwert und deutscher Sang haben einen guten Klang“ – Dieser Satz war auf der Fahne, die der Verein im Jahr 1907 aus Anlass seines 75-jährigen Bestehens erhielt, zu lesen. 450 Mark berechnete die „Fahnenfabrik M. Austermann und Co.“ in Hagen auf der Rechnung vom 22. Mai 1907 der Eintracht. Am 13. Januar war das gute Stück in Auftrag gegeben worden.

fahne-schwarz fahne-rotDer heutzutage kriegerisch klingende Satz wurde übrigens bei der Restaurierung der Fahne zum 175-jährigen Vereinsbestehen weggelassen. 100 Jahre zuvor gehörte dieser Radikal-Nationalismus in ganz Deutschland noch zum „guten Ton“.
Ein weiterer Beweis dafür, wie ausgeprägt die Stimmung in einer Gesellschaft in ihrer Vereinskultur zum Ausdruck kommt, kann dieses Beispiel von 1927 sein: Am 2. Oktober dieses Jahres veranstaltete die Eintracht gemeinsam mit dem Männergesangverein „Hoffnung“ ein „Vaterländisches Konzert“ aus Anlass des 80. Geburtstages des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Es fand im „Konzerthaus W. Klein“ in Wiedenbrück statt.

Zum Teil ausgelöst durch die Repressalien im Versailler Vertrag hatte sich in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ein radikaler Nachkriegs-Nationalismus herausgebildet, der wie bereits in den Jahren vor dem Krieg auch auf die Stimmung in den Männergesangvereinen Einfluss hatte. 1924 hatte der DSB sein nationales Bundesfest in Hannover veranstaltet. Zum Ausklang fuhren die Sänger zum Hermannsdenkmal. Das Treffen dort wurde zu einer Kundgebung gegen den Versailler Vertrag.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass der DSB zum Ende der zwanziger Jahre hin seine größten Mitgliederzahlen verzeichnen konnte: Mehr als eine halbe Million Sänger gehörten dem Bund an sowie noch einmal etwa 700000 passive Mitglieder, die sich aus fast 14000 Vereinen rekrutierten. Auch in dieser Zeit engagierte sich die Wiedenbrücker Eintracht wie schon einmal im 19. Jahrhundert bei der Gründung eines regionalen Sängerbundes: 1926 wurde in Rheda der bis heute bestehende Sängerkreis „Emsland“ für die Region zwischen Beckum, Warendorf und Wiedenbrück aus der Taufe gehoben.

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